Andreas Mühe — Freitag den 13.

Galerie Bastian, Berlin
13.09.—16.11.2014

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Morgat, im August 2024

Lieber Heiner,

großen Dank für Euren Brief. Aeneas hat mich in die Galerie eingeladen und eine Tür geöffnet. Diese herzliche Geste hat mich erreicht, aber sie kann mich nicht zu einem anderen machen, als den, der ich bin. Ich weiß um Deinen großen Anspruch an die Kunst der Moderne in der Bundesrepublik.
Mein Interesse – aufgewachsen mitten im Zusammenbruch eines längst erodierten Gesellschaftssystems – zielt auf, ja, was eigentlich?
Laut Heiner Müller: »Soll ich von mir reden Ich wer Von wem ist die Rede Von mir die Rede geht Ich Wer ist das im Regen aus Vogelkot Im Kalkfell Oder anders Ich eine Fahne ein Blutiger Fetzen ausgehängt Ein Flattern Zwischen Nichts und Niemand Wind vorausgesetzt Ich Auswurf eines Mannes Ich Auswurf einer Frau Gemeinplatz auf Gemeinplatz Ich Traumhölle Die meinen Zufallsnamen trägt Ich Angst Vor meinem Zufallsnamen …«
Ich kann nicht über das Photographieren reden. Walter Benjamin zieht – ich weiß, oft benutzt, auch Klaus Biesenbach stellt das Zitat seinem Vorwort zur RAF Ausstellung in den Kunstwerken voran – eine Zeichnung von Paul Klee heran, um seinen Engel der Geschichte zurück in die Vergangenheit blicken zu lassen. Der Engel sieht die stetig wachsenden Trümmer der Geschichte und wird dabei von einem Sturm aus dem Paradies unaufhaltsam in die Zukunft, die er nicht sieht, getrieben, weil er seine Flügel im Sturm nicht mehr schließen kann. Die Trümmerberge zu seinen Füßen wachsen in den Himmel. Das Paradies sieht er auch nicht mehr und es ist ihm unmöglich, sich umzudrehen, um in die Zukunft zu blicken. Den Sturm, der ihn treibt, nennt Benjamin Fortschritt.
Ich bewege mich auf meinem Zeitstrahl der Geschichte und schiebe Ereignisse übereinander und vertausche sie. Nachdem Gerhard Richter mit seinem Zyklus »18. Oktober 1977« die Mitglieder der RAF zu Grabe getragen hat, das stimmt, hole ich die Verstorbenen wieder aus dem Grab. Eine Schändung an sich, denn Richters Zyklus, auch da stimme ich Dir zu, proklamiert eine Endgültigkeit. Er hat es geschafft, die Terroristen als die Opfer ihrer eigenen Ideologie darzustellen. Ein Schlusspunkt.
Richters Vermalen von Photographien, sein Verwischen als Annäherung durch Distanzierung, sein Arbeitsprozess als permanente Erfahrung von Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten sind mit meinen eigenen Verfahren vergleichbar. Die Dialektik seines und meines Verfahrens ähneln sich. Meine inszenierten Fotografien sind wie seine Bilder: auch Historienmalerei, ungebetene Erinnerungen und ästhetischer Terrorismus.
1977 war ich noch nicht geboren. Für die NSU Morde ab 2000 war
ich bereits alt genug. Bis heute werden deutsche Geschichte und Ge-schichten geteilt erlebt und geschrieben. Der geteilte Raum und die nicht gemeinsam geteilte Zeit belassen uns in einer geistigen Obdach-losigkeit, einer zunehmenden Verwahrlosung, die uns am Denken hindert.

Als ich 2023 zur Feier 175 Jahre Deutsche Nationalversammlung die Totenmasken »RAFNSU« in Frankfurt/Main ausstellte, konnten die Besucher die Masken schwer zuordnen. Ich beschloss darauf, sie weiter auszugraben und schickte die von der RAF in den Knast von Stammheim und die von der NSU in ihren Jugendklub. Beide Orte sind subventionierte, staatliche Räume, in denen man auf Staatskosten viel Zeit verbringt, absitzt und totschlägt. Ich wollte für beide Terrorgruppen identische Räume schaffen, obwohl ihre Strategien unterschiedlicher nicht sein könnten. Die RAF rückt ihre Morde ins Licht der Öffentlichkeit. Die NSU mordet unerkannt im Dunklen.
Beide Gruppen morden aus politischer Überzeugung. Sie zusammenfassen, mag für manche Betrachterin, manchen Betrachter befremdlich sein, aber die gemeinsame Vergangenheit und die vertane Chance ab 1990, vereint, die vergangenen Diktaturen zweier deutscher Staaten endlich aufzuarbeiten, bringt mich dazu. (Da taucht der Gedanke, die Ausstellung unter dem Titel »Hitlers Kinder« zu zeigen, wieder auf.)
Sartre sympathisierte mit den 68ern und die lehnten nur die Taten der RAF, nicht ihre politische Gesinnung ab. Meine Elterngeneration verbindet mit 68 den Einmarsch der Armeen des Warschauer Pakts in die CSSR und das Ende des Prager Frühlings. Sind der Prager Frühling und der Deutsche Herbst vergleichbar?
Deine Sorge, »Opfer und Täter in einer, wenn auch unbeabsichtigten Interdependenz« zu sehen, hängt für mich mit den mehreren Hunger-streiks in Stammheim zusammen. Die RAF-Insassen sahen darin ein Mittel zur Fortsetzung ihres aussichtslos gewordenen politischen Kampfes. Ihr musstet damals »am Leben der Täter in ihren Zellen, nach ihren Taten teilhaben«, denn der Mord am Kammergerichts-präsidenten Günter von Drenkmann, seine Hinrichtung, wurde als Teil der Solidarität mit dem Hungerstreik der RAF gesehen. »Hinrichtung auf Raten« nannte Otto Schily den Hungerstreik, dabei waren die Forderungen der RAF-Mitglieder für mich eher pragmatisch-praktisch: Verbesserung der Haftbedingungen, ihre Zusammenlegung und die Anerkennung als Kriegsgefangene.
RAF und NSU in einen Topf zu stecken, macht ihre Opfer nicht wieder lebendig, aber schiebt diese in die Öffentlichkeit. Mir war es wichtig, die eine Terrorgruppe mit denselben Mitteln wie die andere abzubilden. Die Gleichstellung beider Gruppen basiert auf einem identischen Verfahren. An beiden Sets tragen die Darstellerinnen und Darsteller die Totenmasken wie eine Theater- oder Karnevalsmaske. Sie verbergen sich nicht hinter den Totenmasken, sondern tragen sie wie eine Monstranz vor sich her. Tot im dreifachen Sinne.
Von Toten werden die Abgüsse genommen, die zu Totenmasken werden. Die Darsteller verkörpern Tote, Tote tragen ihre Totenmasken.
Eine Existenzform, die es nicht gibt. Die NSU entscheidet sich zum illegalen Widerstand, um den Gründungsmythos im Osten – aus dem antifaschistischen Widerstand geboren – ad absurdum zu führen. In der RAF erlebt der Ursprungsmythos der BRD – nie wieder Auschwitz – seine Wiederkehr in jener Gewalt, die alle fürchteten. Und in Stammheim stilisieren sich Täter zu Opfern. Mord wird zu Selbstmord, der Mord genannt wird. Doppelt tot – potenziert den Tod. Ihre Lebensorte sind jetzt Kulissen, alles Pappe. Die Ausstattung mit Requisiten schafft Atmosphäre. Musik bitte! Und was läuft jetzt? Große deutsche Oper oder eine Telenovela. Ich spiele auf und wage ein Tänzchen mit der Banalität. Und ich trete auf als Friseur, wie bei Beaumarchais in Figaros Hochzeit, spiele auf, wenn der Herr Graf tanzen möchte, aber nicht als Voyeur des Bösen und Schrecklichen, sondern arbeite an deren Aufklärung.
Ich sehe mich als Teil innerhalb eines demokratischen Prozesses der Gesellschaft, der sich für mich nicht jenseits eines ästhetischen und politischen Urteils abspielt und bin überzeugt davon, dass jede Auseinandersetzung eine ästhetische Ursache hat.

Noch einmal Dank für Deinen Brief und Dein großes Interesse an meiner Arbeit, das ich sehr zu schätzen weiß und mich auffordert, Klarheit zu schaffen.

Dein Andreas Mühe
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